Zur Problematik der Einhaltung des Humanitären Völkerrechts

In diesem Kapitel wird versucht, die Problematik der Einhaltung des Humanitären Völkerrechts unter dem Gesichtspunkt seiner Anwendbarkeit auf innerstaatliche Konflikte darzustellen sowie den Begriff der „Kulturellen Vielfalt“ und der damit einhergehenden Herausforderungen aus soziologischer Sicht zu hinterfragen.

Anwendbarkeit auf innerstaatliche Konflikte

Ein bisher nur unzureichend gelöstes Problem ist die stark eingeschränkte Anwendbarkeit des Humanitären Völkerrechts auf innerstaatliche Konflikte.[1]  Gerade im Falle von Konflikten zwischen regulären Streitkräften eines Staates und nichtstaatlichen Gruppierungen wie zum Beispiel Guerilla-Verbänden, paramilitärischen Einheiten, Partisanen oder Terroristen (asymmetrische Kriegsführung) haben wir es mit einer Ungleichheit der Mittel zu tun. Die nichtstaatlichen Gruppierungen können sich zwar einseitig zur Einhaltung der Bestimmungen des Humanitären Völkerrechts verpflichten, können allerdings offiziell nicht Vertragspartei der jeweiligen Abkommen werden.

„Kulturelle Vielfalt“  und der sogenannte „Fremde“[2]

Der Soziologe Armin Nassehi bezieht sich in seinen Betrachtungen auf den Klassiker Simmel und nimmt dessen Definition des Fremden als Ausgangspunkt.

„Es ist also der Fremde nicht in dem (…) Sinn gemeint, als der Wandernde, der heute kommt und morgen geht, sondern als der, der heute kommt und morgen bleibt.“[3]

Erst durch dieses Bleiben wird eine Form der Spannung erzeugt, welche soziologisch bedeutsam ist. Es geht darum, wie der Fremde als Fremder wahrgenommen wird und – hier setzt Nassehi fort – wie der Fremde letztlich zum Feind wird.[4] Am Beispiel der Integration von Arbeitsmigranten zeigt Nassehi auf, dass der Fremde erst dann zum Feind wird, wenn er nicht mehr fremd, sondern zum Vertrauten geworden ist.

Nassehi fragt zunächst nach den sozialen Konstruktions- und Konstitutionsbedingungen, die den Fremden zum Feind machen. In Anlehnung an die Unterscheidung Zygmunt Baumanns „Es gibt Freunde und Feinde. Und es gibt Fremde.“[5] zeigt er auf, dass das Fremde nicht in den Raum des vertrauten Antagonismus, dem konflikthaften Einverständnis von Freunden und Feinden, zählt. Das Fremde fällt aus dem Raum der gesellschaftlichen Vertrautheit heraus; es erscheint als etwas Unbekanntes, das nicht erwartet wurde und nicht vertraut ist. Um das Fremde als Fremdes zu verstehen, muss man die Bedingungen, unter denen gesellschaftliche Strukturen und Prozesse als vertraut gelten, hinterfragen. Während in einfachen Gesellschaften ritualisierte Techniken entwickelt wurden, welche aus dem Fremden Freund oder Feind machten (z. B. Gastrecht), kam es in der europäischen Neuzeit zu einer größeren Formenvielfalt des Fremden, indem  der Umgang mit Fremden dem politischen Kalkül unterworfen wurde und danach gefragt wurde, „ob die Anwesenheit Fremder für die Stabilisierung des Machtgefüges funktional oder dysfunktional war.“[6] Mit dem Übergang zur modernen Gesellschaft erfährt die Definition des Fremden einen neuen Inhalt. Der Fremde wird zu einem Menschen, der kein Bürger ist, d. h. ihm werden nicht alle Menschen-/Bürgerrechte  zuteil. Mit anderen Worten: der Fremde ist zwar Teil der gesellschaftlichen Ordnung, kann jedoch nur eingeschränkt an den Vergünstigungen dieser Ordnung teilhaben. Dem Fremden haftet das Unbestimmbare, das (noch) Unbekannte an. Fremde sind nach Nassehi diejenigen, welche

„vertraute Räume transzendieren und aufgrund ihrer Unbestimmbarkeit soziale Ordnung in Frage stellen. Zu Feinden (aber auch zu Freunden) werden Fremde demgemäß erst dann, wenn sie in den vertrauten Antagonismus von Freund und Feind eingeordnet werden können, d.h. wenn sie letztlich keine Fremden mehr sind.“[7]

Letztlich ist es also die Feindschaft des Fremden, welche seine Fremdheit aufhebt. Um seine Theorie empirisch zu belegen greift Nassehi auf die Wanderungsstudien Hartmut Essers zurück. Am klassischen Beispiel der Arbeitsmigranten der 50er und 60er Jahre aus Südeuropa und Vorderasien nach Mitteleuropa zeigt Esser auf, dass Einwanderer in ökonomische Nischen eindringen und dort absorbiert werden. Sie füllen damit Bereiche mit „defizitärer Funktionserfüllung[8] auf. Der Fremde wird noch auf Distanz gehalten. Spätestens in der zweiten Generation wird jedoch der Fremde formal zu einem gleichen Mitbewerber beim Zugang zu knappen Ressourcen und Lebenschancen. Damit wird er paradoxerweise nunmehr als Fremder wahrgenommen, obwohl er dies nicht mehr ist. Er ist Freund oder Feind. Zum Feind wird er dann, wenn er „ausschließlich als Mitglied einer Fremdgruppe wahrgenommen wird“[9] – unabhängig davon, ob eine solche als Gruppe auch tatsächlich existiert. Esser spricht von der Unterscheidung zwischen „einer (imaginären) Eigengruppe und einer (imaginären) Fremdgruppe“[10]. Wenn nun die eigene Position im Wettbewerb um knappe materielle oder kulturelle Ressourcen als durch den Fremden geschwächt erscheint bzw. es gelingt, ihm die Ursache zuzurechnen, entsteht daraus Feindschaft.

Nassehi sieht die nationale Semantik als wesentliches Element, eine spezifische Form von Vertrautheit herzustellen, welche „innernationale Differenzen und Konflikte zugunsten äusserer Abgrenzung“[11] entschärft. Die Definition des Fremden als Nicht-Bürger entstammt gerade dieser Vertrautheitspolitik der Nation. So sieht er denn auch das Problem des Fremden als Feind vor allem als „ein Problem der zunehmenden Destabilisierung gesellschaftlicher, persönlicher und biographischer Zukunftsorientierungen“. Dass Zuwanderer und Ausländer dafür verantwortlich gemacht werden, ist seines Erachtens nach „auf den hohen Strukturwert nationalistischer Einstellungsmuster“, welche sich historisch kulturell erhalten haben, zurückzuführen.[12]

„Kulturelle Vielfalt“ und Menschenfeindlichkeit als Konstrukt der Ungleichwertigkeit[13]

Wilhelm Heitmeyer von der Universität Bielefeld geht im Rahmen einer seit dem Jahr 2002 laufenden und auf 10 Jahre angelegten Langzeitstudie der Frage nach, wie Menschen unterschiedlicher sozialer, religiöser und ethnischer Herkunft sowie mit verschiedenen Lebensstilen von der Mehrheit in der Gesellschaft wahrgenommen und mit feindseligen Mentalitäten konfrontiert werden. Bei dieser gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit handelt es sich um ein theoretisches Konstrukt, welches auf der Ideologie der Ungleichwertigkeit aufbaut. In seine empirische Analyse werden insgesamt neun Syndromelemente offener bzw. verdeckter Menschenfeindlichkeit einbezogen: neben Rassismus und Fremdenfeindlichkeit wird die Abwertung des Religiösen (Antisemitismus, Islamophobie), die Herabsetzung sexuellen oder sozialen Andersseins (Obdachlose, Homosexuelle, Behinderte) sowie die Demonstration von Etabliertenvorrechten und Sexismus behandelt.

Die empirischen Resultate zeigen auf, dass die einzelnen Elemente nicht unabhängig voneinander sind, sondern dass feindselige Einstellungen nicht nur gegen eine, sondern vielfach gegen mehrere Gruppen gerichtet sind. Durch diese in unterschiedlichem Ausmaß zusammenhängenden demonstrativen bzw. verdeckten Abwertungen – so die Studie – wird aufgezeigt, dass die Vergiftung einer liberalen Atmosphäre an verschiedenen Stellen des Syndroms einsetzen und sich verstärken kann.

„Diese Vergiftung kann etwa bei jenen Gruppen ansetzen, die schon ‚traditionelle’ Opfer sind, wie ethnische oder religiöse Gruppen, aber auch bei denen, die etwa neuerdings aufgrund von Kapitalinteressen oder aus anderen Gründen verstärkt aus öffentlichen Räumen vertrieben werden, wie z. B. Obdachlose.“[14]

In solch einem vergifteten Klima können feindselige Einstellungen auch auf weitere, von der Diskriminierung bislang ausgenommene, soziale oder kulturelle Gruppen ausgeweitet werden und überspringen. Als Beispiel führt die Studie die offene Vertretung von Ideologien der Ungleichwertigkeit durch Eliten eines Landes an. Darüber hinaus gibt es auch Formen der Verschleierung von abwertenden Einstellungen,

„in denen vornehm verdeckt und politisch korrekt, von den Befragten etwa ‚nur’ Etabliertenvorrechte reklamiert werden… Diese Verletzung (von Gleichheitsgrundsätzen) kann jederzeit mit ethnisch oder religiös fundierten Argumenten zu konkreten Abwertungen bestimmter Gruppen ‚zugespitzt’ werden.“[15]

„Kulturelle Vielfalt“ und der „Kampf der Kulturen“[16]

In diesem Zusammenhang muss auch die derzeitige Argumentationslinie der westlichen Welt, allen voran die USA, gesehen werden. Nach dem Zerfall der Sowjetunion verblieb die USA als einzige Supermacht und es ist derzeit keinem anderen Staat weltweit möglich, die Vereinigten Staaten von Amerika in einem sogenannten „klassischen Staatenkrieg“[17] zu besiegen. Wir sind deshalb mit dem Phänomen der Asymmetrie konfrontiert, einer Situation, wo wir

„auf der einen Seite einen organisierten, gesellschaftlich, wirtschaftlich und politisch entwickelten Rechtsstaat haben, dem schlagkräftige, militärische Mittel zur Verfügung stehen (und) auf der anderen Seite ist etwas, das kein Staat ist, was außerhalb der gültigen Rechtsnormen existiert – ohne schlagkräftige militärische Mittel. Dieses Etwas hat nur die Mittel, einen konventionellen  Staat zu überraschen und Schrecken zu verbreiten, aber es stellt kein Ziel für den konventionellen Staat dar.“ [18]

Spätestens seit dem 11. September  hat sich das gesellschaftliche Leben in Amerika in einer panikartigen Schockreaktion verändert. Während bis dahin die breite Bevölkerung eher geringen Anteil an außenpolitischen Themen zeigte, erhielt nun Huntingtons  These vom „Kampf der Kulturen“  starken Aufwind. George W. Bush  nutzte die Gunst der Stunde und brachte mit seinem Slogan vom Kampf des „Guten gegen das Böse“ nahezu die ganze Nation auf Kurs. Bombenattentate in Europa und anderen Teilen der Welt bescherten den USA vor allem in der westlichen Welt zahlreiche Verbündete. Die Auswirkungen der politischen Reaktionen wirken bis heute nach. Tiefgreifende Eingriffe in unser Alltagsleben, der Verzicht auf langerkämpfte Freiheiten unter dem Deckmantel der nationalen Sicherheit, sind die Folge.

Für den Harvard-Professor Samuel Huntington sind in einer globalisierten Welt die Konflikte aufgrund der Vielzahl von Kulturkontakten nahezu vorprogrammiert. Im postideologischen Zeitalter definieren sich die Menschen wieder vermehrt über ihre Kultur, insbesondere über Religion, Sprache, Werte, Sitten und Gebräuche. Nach Huntington lösen sich im Westen die kulturellen Werte in multikultureller Beliebigkeit auf, während sich vor allem der islamische und der chinesisch-asiatische Kulturkreis auf ihre Kultur besinnen und durch wirtschaftlichen Fortschritt und Bevölkerungswachstum erstarken.

Mit der Verringerung des Einflusses der Religion auf die Politik als Folge der Aufklärung praktizierten – mit Ausnahme der Vereinigten Staaten – immer weniger Menschen eine Religion. An ihre Stelle traten große Ideologien wie Liberalismus, Sozialismus, Kommunismus, Faschismus, Autoritarismus, Korporativismus und Demokratie. Erst im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts setzte – mit Ausnahme Europas – in fast allen Teilen der Welt eine Renaissance der Religion ein, welche in erster Linie von den aufstrebenden, gut ausgebildeten Angestellten und Freiberuflern getragen wurde. Besonders betroffen waren davon die ehemals kommunistischen Länder in Osteuropa, Mittelasien und im Kaukasus, aber auch der Nahe Osten, Afrika, China, Südostasien und Lateinamerika. In der arabischen Welt – so Huntington – entsteht ein neuer Nationalismus, welcher sich durch den zunehmenden Stimmenanteil der islamistisch-politischen Parteien bemerkbar macht.[19]

Huntington tritt für eine Rückbesinnung auf die westliche Kultur und die Ablehnung kultureller Heterogenität ein und fordert den Ausbau der militärischen Stärke des Westens. Mit den Ereignissen des 11. Septembers 2001 wurde seine Ansicht, Weltpolitik in erster Linie als kulturelle Weltordnung zu verstehen, zu einem Grundpfeiler der amerikanischen Außenpolitik. Nach Huntington könne nur eine Politik der wechselseitigen Abgrenzung, welche die interkulturellen Begegnungs- und Reibungsflächen vermindert, globale Konfrontationen eindämmen. Mit seinem Buch vom „Kampf der Kulturen“ [20] präsentiert Huntington ein einfaches Bild von der Zweiteilung der Welt, dem Streit zwischen Licht und Finsternis oder – wie es letztendlich von der amerikanischen Politik formuliert wurde – dem Kampf des „Guten gegen das Böse“. Kritiker bemängeln vor allem diese Reduzierung Huntingtons, welche die Komplexität der Welt außer Acht lässt und die religiöse Fundamentalisierung in vielen Teilen der Welt als einzigen Beleg ins Treffen führt.

Fundamentalismus wurde zum geflügelten Wort und wird insbesondere  in der westlichen Gesellschaft mit negativen Gefühlen und Freund-Feind-Bildern verbunden. Der Begriff hat Eingang in die westliche Semantik gefunden und verstärkt – insbesondere durch seinen unreflektierten Gebrauch – Huntingtons Schwarz-Weiß-Darstellung. Alfred Rammer weist in seinen Betrachtungen zum Alltagsfundamentalismus auf den Bedeutungswandel des Wortes „Fundamentalismus“  für die breite Öffentlichkeit der westlichen Welt hin.

„Nicht nur, dass es jeder positiven Konnotation beraubt wurde und nur mehr pejorativer Zuschreibungen dient, darüber hinaus ist das, was damit angezeigt wird, weitest gehend aus der Welt ‚westlicher’ Zivilisationen verbannt: getroffen wird entweder – immerhin noch ein wenig differenzierend – ein gewisser Teil der muslimischen Welt, oder – jeglicher Differenzierung abhold – die Welt des Islam als ganze. Dass man mit einer derartigen Zuschneidung eine konstruktive und tunlichst friedliche Auseinandersetzung mit muslimischen Kulturen zumindest erheblich erschwert wenn nicht verunmöglicht, ist traurig genug. Dennoch ist dies nur die eine Seite der Medaille, die andere ist keinesfalls viel freundlicher leuchtend: eine sich selbst mit einigem Recht reflexiv verstehende Gesellschaft beraubt sich eines Begriffs, der zwar nie wirklich eindeutig, aber dennoch einiger Maßen adäquat einen gesellschaftlichen Tatbestand beschreibt, der Teil eben auch der ‚westlichen’ Gesellschaft war und ist.“ [21]

Öl in das Feuer des Kampfes der Kulturen goss Papst Benedikt XVI. anlässlich seiner Rede in Regensburg im September 2006. Der Papst zitierte dabei die Äußerung eines mittelalterlichen Kaisers, wonach der Prophet Mohammed „nur Schlechtes und Inhumanes“ in die Welt gebracht habe. Diese Aussage führte – trotz der wenige Tage später erfolgten Bedauernserklärung Benedikts XVI. – in der muslimischen Welt zu großer Empörung und Demonstrationen. Iranische Geistliche stellten Vergleiche zum Kreuzzug her und Al Qaida erneuerte Terrordrohungen gegenüber Benedikt XVI.

Kulturgüterschutz im Lichte des symbolischen Interaktionismus[22]

Der symbolische Interaktionismus ist eine soziologische Theorie, die sich mit den Zeichen und Symbolen beschäftigt, die von Menschen in ihren Interaktionen benutzt werden. Viele Zeichen und Symbole fließen ohne bewusste Reflexion in unsere alltäglichen Handlungen ein. Gerade durch dieses unreflektierte Einfließen können nun Interaktionen auch sehr störanfällig sein. In ihrem Zusammenleben gehen Menschen jedoch auch häufig nicht-symbolische Interaktionen ein, welche gerade im Freund-Feind-Verhältnis eine besondere Bedeutung gewinnen. So ist das unreflektierte Reagieren auf körperliche Bewegungen des anderen, dessen Mimik, Gestik, Stimmlage etc. oftmals entscheidend für die jeweilige Form der künftigen Beziehung. Der symbolische Interaktionismus geht davon aus, dass Interaktion nicht alleine durch verbales und nonverbales Verhalten erfolgt, sondern dass die jeweils Beteiligten auch ein bestimmtes – von wo auch immer – geprägtes Vorwissen über ihr Gegenüber haben und eine dementsprechende Reaktion voraussetzen. Das Verstehen der Bedeutung der Handlung des anderen ist eines der Hauptanliegen des symbolischen Interaktionismus.

George Herbert Mead, der eigentliche Begründer des symbolischen Interaktionismus, sieht in der Geste eine besondere Bedeutung – sowohl für die Person, von welcher sie ausgeht als auch für die empfangende Person. Erhebt jemand die Faust, so ist dies ein Hinweis auf einen möglichen feindlichen Akt, offene Hände dagegen ein Hinweis, dass man freundlich gesinnt, unbewaffnet ist oder sich ergibt. Je nach individuellem Bedeutungsgehalt erfolgt darauf die Reaktion des anderen. Es macht einen Unterschied aus, welche Bedeutung eine Geste für die Interaktionspartner hat. Hat sie für beide dieselbe Bedeutung, herrscht Verstehen vor.

„Wir können uns selbst nicht sehen, wenn unser Gesicht einen bestimmten Ausdruck annimmt. Aber wir hören uns selbst sprechen und sind daher zur Aufmerksamkeit fähig. Man hört sich selbst, wenn man durch einen irritierenden Ton, den man hören lässt, irritiert wird: man erwischt sich sozusagen selbst. Beim irritierenden Gesichtsausdruck aber löst der Reiz keinen Ausdruck im Individuum selbst aus, sondern nur bei den anderen. Weit eher fängt und kontrolliert man sich in der vokalen Geste als im Mienenspiel.“[23]

In seiner These vom „generalisierten Anderen“ sieht sich  der Einzelne immer doppelt – also mit den eigenen Augen und mit den Augen des oder der anderen. Nachdem nun jedes Individuum eine Vielzahl von Rollen in sich vereint, besteht die besondere Schwierigkeit darin, die Haltung und Erwartungen des anderen (richtig) zu verallgemeinern, zu „generalisieren“. Dieses von Mead als „role taking“ bezeichnete Verhalten – also das „in-die-Haut-des-Anderen-schlüpfen“ – wo wir ein bestimmtes Verhalten erwarten und uns auch dementsprechend verhalten, erschwert die Interaktion nochmals. Bei einer Geiselnahme durch einen Terroristen muss beispielsweise letzterer die Reaktionen aus dem Bezugsrahmen der Geisel und der Verhandler sehen und die Geisel die Reaktionen aus Sicht des Terroristen etc.

Herbert Blumer knüpfte an die Theorie seines Lehrers Mead an und geht   davon aus, dass Menschen „Dingen“ gegenüber aufgrund der Bedeutungen, die diese Dinge für sie besitzen, handeln. Dabei sind „Dinge“ alles, was der Mensch in seiner Welt wahrzunehmen vermag, u.a. auch  Kategorien von Menschen wie Freunde oder Feinde. Die Bedeutung dieser Dinge wird aus der sozialen Interaktion abgeleitet bzw. von den miteinander interagierenden Personen geschaffen und interpretiert.

Nun ist das Umfeld der Menschen bzw. Gruppen aus „Objekten“ als Produkt symbolischer Interaktion zusammengesetzt. Die Bedeutung dieser Objekte für eine Person entsteht im wesentlichen aus der Art und Weise, in der diese in der Interaktion mit anderen Personen definiert werden. Dadurch erlernen wir z.B. dass Immane wichtige Bezugspersonen sind, dass Freiheit in unterschiedlichen Kulturen auch verschieden wahrgenommen wird oder dass Migranten wichtig für die wirtschaftliche Entwicklung eines Landes sind. Das menschliche Zusammenleben ist im symbolischen Interaktionismus ein Prozess, der – von Menschen geleitet – Objekten eine jeweils unterschiedliche Bedeutung zukommen lassen kann. Damit wandelt sich auch das Leben und Handeln der Menschen.

Im Zusammenhang mit den Ereignissen des 11. September 2001 präsentiert der französische Soziologe Jean Baudrillard seine – von vielen heftig kritisierten – Thesen zum Terror. Baudrillard vergleicht den Terrorismus mit der weltweiten unbemerkten Ausbreitung von Viren.[24] Seit der Kalte Krieg vorbei ist, wo das System der gegenseitigen Abschreckung noch eine Weltordnung garantierte, gibt es heute nur mehr eine Weltunordnung, wo sich das Böse viral ausbreitet und auch im Innern der Weltmacht USA Platz findet. Die Weltordnung ist an ihre Grenzen gestoßen und bekämpft jeden sichtbaren Antagonismus, kann jedoch keine Erfolge erzielen, da das Gegenüber viraler Natur ist.

Baudrillard fragt danach, ob wir nicht alle schon einmal von der Zerstörung der Macht geträumt hätten, auch wenn wir selbst dies nie bewusst gewollt haben. Dieser Traum von der Zerstörung der Macht, eine „terroristische Imagination, die in uns allen wohnt“,[25] ist das Unbewusste der westlichen Zivilisation.  Es ist der Reiz des  Schlagenwollens einer  „derart hegemonial gewordenen Macht“ [26] wie die Vereinigten Staaten. In der von den USA angeführten Globalisierung sieht Baudrillard die logische Konsequenz, denn „die stete Machtzunahme einer Macht verstärkt auch den Wunsch, sie zu zerstören.“[27]

Im Anschlag auf das World Trade Center konstatiert er ein „symbolisches Ereignis“ von globaler Bedeutung. Um dem Monopol der Weltmacht gegenüber treten zu können, mussten die Terroristen ihre Spielregeln ändern, sich sozusagen anderen Regeln unterwerfen und nicht mehr rational im Sinne der historischen Dialektik Hegels[28] handeln. Durch die Verlagerung des Kampfes in die symbolische Sphäre fordert man das System auf einem Feld heraus, auf dem es nicht antworten kann, außer durch Hinnahme der eigenen Zerstörung. Die Terroristen „haben sich alle Errungenschaften der Moderne und der globalen Zivilisation zu eigen gemacht, ohne ihr Ziel aus den Augen zu verlieren, das darin besteht, ebendiese zu zerstören.“[29] Terroristen können durch ihre Angepasstheit im Alltagsleben untertauchen, was zur Folge hat, dass die Bevölkerung verunsichert wird, da jedes Individuum als Terrorist verdächtigt werden kann. Sie haben zwar alle Techniken der Moderne übernommen, nicht jedoch deren Werte.

Die amerikanische Gesellschaft reagiert mit Ersatzaktionen (z. B. Krieg), um damit zu suggerieren, dass sie den Terrorismus vernichtet und wird sich durch ihren Sicherheitsterror einer fundamentalistischen Gesellschaft annähern bzw. dieser gleichkommen. Darin sieht Baudrillard den wahren Sieg des Terrorismus.

Dass es allerdings in der Praxis nicht so weit her ist und internationale Übereinkommen nicht die erwünschte Beachtung finden, wird insbesondere in der jüngsten Zeit schmerzlich wahrgenommen. So wurde im Jahr 1993 im Zuge des Krieges im benachbarten Jugoslawien die Brücke von Mostar durch kroatische Granaten in die Luft gesprengt. Für die BewohnerInnen stürzte damit nicht nur eine bloße Brücke, sondern auch die gesamte Erinnerung ein. Die Brücke von Mostar verband das Hinterland mit der Adria und dies seit dem Jahre 1566. Es war auch die Brücke, welche der Stadt ihren Namen gab. Rund acht Jahre dauerte es, bis -mit Unterstützung der UNESCO – dieses Denkmal der Baukunst als Kopie des zerstörten Originals Stein für Stein wieder hergestellt wurde. Die UNESCO ging bei diesem Kulturerbe über ihre ursprünglichen Zielsetzungen hinaus; sie trat nicht nur für die Bewahrung dieses Weltkulturerbes ein, sondern unterstützte auch die Rekonstruktion eines zerstörten Denkmals.

Weil sie nicht in das Weltbild der Taliban passten, sprengten diese im März 2001 die beiden Buddha-Statuen von Bamian. Von den seinerzeitigen Skulpturen sind heute lediglich noch Fragmente erhalten. Auch die Schäden in Archiven, Museen sowie dem geplünderten Nationalmuseum in Bagdad/ Irak sind beträchtlich. Von den insgesamt rund 15.000 antiken Fundstücken sind bislang erst knapp 4.000 wieder aufgetaucht. Während des Krieges im Frühjahr 2003 wurden diese gestohlen.

Darüber hinaus werden auch von Archäologen noch nicht untersuchte und als historische bedeutsame Ausgrabungsstätten eingestufte Gebiete von US-Militärs als Stützpunkte missbraucht. Es werden darauf Gebäude inkl. Unterirdischer Verkabelung und Röhren errichtet. Antike Stätten werden durch Schutzwälle, das Ausbaggern und schwere Militärfahrzeuge, welche kreuz und quer durch nicht erschlossenes Gebiet rollen, beschädigt.

Der „neue“  (erweiterte) Kulturgüterschutz-Begriff[30]

Kulturgüterschutz beschränkt sich also nicht nur – grob gesagt – auf den Schutz von Baudenkmälern, Museen u. dgl. Kulturgüterschutz beinhaltet neben dem Schutz materieller Kulturgüter auch den Schutz immaterieller Kulturgüter, also – um es soziologisch auszudrücken – den Schutz von allem, was der Mensch bis dato hervorgebracht hat und in dem er sich als Teil seiner Welt wieder erkennt. Dazu zählt die Sprache, Lebensformen, Techniken, Ideen, Werte, Auslegungen und Deutungen, Institutionen u. dgl. Unter solch einem Gesichtspunkt erscheint Kulturgüterschutz als äußerst komplexe Materie.

Betrachtet man die derzeitigen Krisen– und Kriegsgebiete in der Welt, so kann man unschwer feststellen, wie wichtig der Schutz kultureller Vielfalt, der jeweiligen Ausdrucksformen und die Sicherstellung der freien Interaktion derselben ist. Die Bindung einer Volksgruppe, ja einer ethnischen Minderheit, zu ihrer Kultur, ihrer Sprache, Tradition, zu Festen und Ritualen, ja ihrer Religion, wird stärker, je mehr Druck von außen einwirkt – sei es nun politischer, wirtschaftlicher oder auch kultureller Druck. Es ist eine Art Schutzmechanismus, welcher hier in Kraft tritt. Die Bedrohung der Kultur, der Sprache, der eigenen Geschichte etc. ist ein Angriff auf die Identität der jeweiligen Gruppe.

Protestaktionen, Aufruhr, Terror, Krieg, aber auch Resignation, Rückzug usf. lassen sich vor allem  in Gebieten feststellen, wo o.a. Eingriffe in die Kultur und somit in die Identität der Menschen erfolgen. Die Spanne der Eingriffe ist schier unendlich: von ethnischen Säuberungen über Sprachverbote, beruflichen oder schulischen Zugangsbeschränkungen bis hin zu „feineren“ Methoden wie einseitige Nachrichtensendungen, Zensur oder wirtschaftliches Aushungern eines Gebietes. Kulturgüterschutz – aus dieser Warte betrachtet – ist der Schutz der Einzigartigkeit und Vielfalt der Identitäten, die Gruppen und Gesellschaften kennzeichnen, und untrennbar mit der Achtung der Menschenwürde verknüpft.


[1] vgl. Zweites Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen, Art. 1, Absatz 2.

[2]vgl. Hofer, Bernhard: die soziologische Konzeption des Feindes. In: Ertl, P.G./Troy, Jodok (Hrsg.): Der Feind – Darstellung und Transformation eines Kulturbegriffs. Band 1, Verlag: Landesverteidigungsakademie/Institut für Human– und Sozialwissenschaften, Wien, Jänner 2008.

[3] Simmel, Georg,: Exkurs über den Fremden. In: Ders. (Hg.): Soziologie. Untersuchung über die Formen der Vergesellschaftung, Gesamtausgabe Bd. 2, Suhrkamp, Frankfurt a.M., 1992, S. 764.

[4]vgl. Nassehi, Armin: Der Fremde als Feind. Soziologische Beobachtungen zur Konstruktion von Identitäten und Differenzen. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Jg. 47, Heft 3, Köln,1995, S. 443-463.

[5]Baumann, Zygmunt: Moderne und Ambivalenz. In: Bielefeldt, Uli (Hrsg.): Das Eigene und das Fremde. Neuer Rassismus in den Alten Welt? Junius, 2. Aufl. Hamburg,1992, S. 23.

[6]Nassehi, Armin: Der Fremde als Feind. Soziologische Beobachtungen zur Konstruktion von Identitäten und Differenzen.in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Jg. 47, Heft 3, 1995, S. 450.

[7]Ders.,  S. 455.

[8]Esser, Hartmut, 1980: Aspekte der Wanderungssoziologie. Assimilation und Integration von Wanderern, ethnischen Gruppen und Minderheiten. Eine handlungstheoretische Analyse. Darmstadt und Neuwied:Luchterhand, S. 236. In: Nassehi, Armin: Der Fremde als Feind. Soziologische Beobachtungen zur Konstruktion von Identitäten und Differenzen. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Jg. 47, Heft 3, Köln,1995, S. 456.

[9]Nassehi, Armin, S. 457.

[10]Esser, Hartmut, S. 138.

[11]Nassehi, Armin, S. 452.

[12]vgl. ders. S. 460.

[13]vgl. Hofer, Bernhard: die soziologische Konzeption des Feindes. In: Ertl, P.G./Troy, Jodok (Hrsg.): Der Feind – Darstellung und Transformation eines Kulturbegriffs. Band 1, Verlag: Landesverteidigungsakademie/Institut für Human– und Sozialwissenschaften, Wien, Jänner 2008.

[14]Universität Bielefeld/Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung: Äußerungsformen von Menschenfeindlichkeit.

http://www.uni-bielefeld.de/ikg/Feindseligkeit/Aeusserungsformen.html, Download am 24.08.2007.

[15]Universität Bielefeld/Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung: Äußerungsformen von Menschenfeindlichkeit.

http://www.uni-bielefeld.de/ikg/Feindseligkeit/Aeusserungsformen.html,  Download am 24.08.2007.

[16]vgl. Hofer, Bernhard: die soziologische Konzeption des Feindes. In: Ertl, P.G./Troy, Jodok (Hrsg.): Der Feind – Darstellung und Transformation eines Kulturbegriffs. Band 1, Verlag: Landesverteidigungsakademie/Institut für Human– und Sozialwissenschaften, Wien, Jänner 2008.

[17] „klassische Staatskriege“ folgen gewissen Regeln: z. B. Kriegserklärung, Unterscheidung von Soldaten und Zivilisten, Kalkül von Kosten und Nutzen, Friedenschluss etc.

[18]Schröfl, Josef: The Asymmetric Power of Terrorism. Landesverteidigungsakademie, Schriftenreihe Nr. 16, Wien, 2005, S. 2.

[19]vgl. Huntington, Samuel P.: Gott ist wieder da! In: Cicero – Magazin für politische Kultur, Ausgabe August 2005,  http://www.cicero.de/839.php?ausgabe=08/2005, Download am 15.10.2006.

[20]vgl. Huntington, Samuel P.: Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert. Europa-Verlag, München, Wien, 1996.

[21]Rammer, Alfred: Eigentlich sind wir ja alle Fundamentalisten. Eine Theorie des Alltagsfundamentalismus. In: Public Observer, Zeitschrift für sozialwissenschaftliche Analysen und Regionalforschung, Nr. 18, Linz, 2005, S. 6.

[22]vgl. Hofer, Bernhard: die soziologische Konzeption des Feindes. In: Ertl, P.G./Troy, Jodok (Hrsg.): Der Feind – Darstellung und Transformation eines Kulturbegriffs. Band 1, Verlag: Landesverteidigungsakademie/Institut für Human– und Sozialwissenschaften, Wien, Jänner 2008.

[23]Mead, George Herbert: Geist, Identität und Gesellschaft aus der Sicht des Sozialbehaviorismus. (amerikan. Orginal Mind, Self and Society von 1934), Frankfurt/M. 1973, S. 105.

[24]vgl. Baudrillard, Jean: Der Geist des Terrorismus. Hrsg. von Peter Engelmann, Passagen Verlag, Wien, 2002, S. 20.

[25]Baudrillard, Jean: Der Geist des Terrorismus. Hrsg. von Peter Engelmann, Passagen Verlag, Wien, 2002, S. 12.

[26]ebd., S. 12.

[27]ebd., S. 13.

[28]Nach Hegel hat alles, was ist, auch seinen Widerspruch. Im – von Hegel selbst mit diesen Begriffen zwar nie versehenen – dialektischen Dreischritt „These – Antithese – Synthese“ spiegelt sich der geschichtliche Prozess. Zur These des Bewusstseins tritt die Antithese eines anderen Bewusstseins hinzu. In einem Kampf, in welchem es um Anerkennung geht, binden sich letztlich beide aneinander. Diese Synthese nennt Hegel Selbstbewusstsein.

[29]Baudrillard, Jean , S. 23

[30]vgl. Hofer, Bernhard: Kulturgüterschutz – eine komplexe Aufgabe. In: Public Observer. Zeitschrift für sozialwissenschaftliche Analysen und Regionalforschung. Nr. 50/März 2008, ISSN 1812-3856.